Zum Inhalt springen

Protest – Bewegung – Öffentlichkeit

Studierende verteilen Flugblätter. Auswirkungen? Keine.

Welchen Aufwand aber bedeutete ein Flugblatt noch im 19. Jahrhundert und welche Wirkung konnte es erzielen? Wie veränderten sich die Positionen und Aktionsformen studentischen Protests bis ins Internetzeitalter? Antwortversuche, Protestartefakte und eine alte Druckmaschine fanden sich auf einer eigenen Etage.

Tafeln

Anschreiben gegen den Mainstream in der Wissenschaft
Studentische Fachzeitschriften

Einfach mal googeln (aber Cache löschen!)
Studentische Netzwelten

Kampf dem „Nebenwiderspruch“ – nicht nur an der Uni
Der Berliner Aktionsrat zur Befreiung der Frau

Zeitstrahl

? | 2009 | 2003 | 2001 | 1997/1998 | 1990/1991
1988/1989 | 1988 | 1976/1977 | 1973 | 1968
„1968“ | 1963 | 1956 | 1948-1959
1945-1948 | 1933-1935 | 1933 | 1927 | 1918 | 1880/1881
1848 | 1832 | 1817 | 1813-1815 | Konzept des Zeitstrahls

>200 Jahre Protestieren in Berlin
Wie passt das auf eine Linie?

Revolution 1848, Bücherverbrennung 1933, UNiMUT 1988, Bildungsstreik 2009 – Wieso sollte das auf Linie gebracht werden? Nehmen wir doch die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten hin und betrachten lieber die essentiellen Kriterien dieser Ereignisse.

Der Streik, bei dem wir selbst dabei waren, demonstrierten und polemisierten, ist immer der wichtigste. Aber nicht alles, was mensch getan hat im Leben, bleibt historisch bedeutsam. Der politische Kontext für den studentischen Protest wird vorgegeben durch die großen politischen Entwicklungen. Geschichte ist längst nicht mehr die Geschichte der Herrschenden, aber 1918 dankte ein Kaiser ab, und ein Weltkrieg war zu Ende. 1968 war eine Kulturrevolution von Prag bis Berkeley, die von E-Gitarren über Wohngemeinschaften und Frauenemanzipation Errungenschaften gebracht hat, die kaum mehr als links gelten, weil sie so tief in den westlichen Gesellschaften verankert sind.

Wenig Beachtung finden meistens die Bedingungen studentischer Selbstorganisation. Durften Frauen studieren, welche Gruppen waren an den Hochschulen dominant? Gab es stille Übereinkünfte, neue Organisationsmodelle, die den Weg bereiten für den Protest, oder hohle Rituale, die den Neuerungen im Weg standen? Wir haben diskutiert, ob die Bücherverbrennung 1933 ihren Platz in dieser Reihung haben soll. Nicht immer war Protest fortschrittlich. Die völkischen Gruppen waren beseelt davon, die verhasste Weimarer Republik zu zerstören. Sie protestierten gegen die Idee des freien Menschen. Weil es niemand gab, der ihnen wirksam entgegentrat, ging der fragile Rahmen der Freiheit verloren. Deutlicher wurde es selten, dass man bei Strafe des Untergangs nicht unpolitisch sein sollte. Manch gut ausgebildeter Fachidiot ist tatsächlich auch ein Idiot.

Nichts veränderte die Formen des Protests so sehr wie die Entwicklung neuer Medien. Ein subversives Flugblatt im 19. Jahrhundert herzustellen war eine Plackerei und manchmal lebensgefährlich. Heute erreichen Mailinglisten, Twitter und Facebook zehntausend Adressat_innen in Sekundenbruchteilen. Werden die Proteste dadurch erfolgreicher, ist die Kritik besser zu hören? Die Universität war immer ein Ort, an dem mensch neue Leute und neue Ideen finden konnte und das wirksamste Medium ist bis heute vielleicht das gemeinsame Kaffeetrinken geblieben, der Gedankenaustausch zwischen Menschen, die einander verstehen, ohne sich gleichen zu müssen. Alles andere, das Megaphon, das Transparent, der Videoclip, kommt später.

Wer sich lange genug Gedanken gemacht hat, will irgendwann auch handeln. Auch die Aktionsformen wandelten sich im Lauf der Jahrhunderte, im Rhythmus der Moden. Was früher Sit-In hieß, ist heute schon lange out. Dafür ist Outsourcing plötzlich in. Menschen, die politisch etwas verändern wollen, haben sich in den letzten drei Jahrzehnten unglaublich professionalisiert. Am Anfang, heißt es, steht die Empörung über das Unrecht. Und die Entscheidung, welches Risiko mensch eingehen möchte, um das Unrecht zu beenden. Student_innen agieren lautstark, listig, gewalttätig, niedlich-friedlich, mit staatlichem Segen, auf eigene Gefahr, völlig isoliert oder als Hambacher Festgesellschaft von mehr als 30.000 Gleichgesinnten. Früher waren Studierende die ganz anderen. Wer sein bürgerliches Leben lebte, war Philister, den Studierenden gestand man gewisse Besonderheiten zu. Sie hatten einen eigenen Status, separate Gerichtsbarkeiten, ein kryptisch anmutendes Vokabular und eine nahezu identische Lebenssituation. Können die Student_innen heute überhaupt noch protestieren, wenn sich an den Hochschulen so viele verschiedene Lebensentwürfe, Biographien und Ideen tummeln? Wenn mensch effizient durch sein Studium durchgeprügelt wird und auch noch ins Ausland will, und ins Praktikum und in die Kneipe, wo man oder frau jobbt. Die Chance zu begreifen, dass bestimmte Dinge sich ändern müssen, wäre da, wenn mensch nur wollte. Danach müsste mensch nur noch den Rest überzeugen. Aber meist waren die Kommiliton_innen, die Mit-Streiter_innen leider nur Einzelkämpfer_innen.

Kein Projekt ohne Erfolgskontrolle. Wir halten den Konjunkturen der Revolte den Spiegel vor und fragen: Was hat’s gebracht? Was waren die Folgen? Wurde die Welt gerettet, oder wenigstens die Öffnungszeit der Bibliothek verlängert? Wurden die Ziele des Protests erreicht, oder gab es unerwartete Nebeneffekte, erfreuliche und unerfreuliche? Der Weltgeist zappelt, wo er will. Bis heute weiß keiner, warum Rosa Parks, jene schwarze Frau, die im Bus nicht mehr hinten sitzen wollte, ein Land wie die USA in eine neue Epoche brachte, oder warum teure Propagandamaschinerien besonders in Wahlkämpfen nullkommanichts bewirken. Der große Umbruch in Osteuropa 1989 war so wenig vorher zu sehen wie die aktuellen Entwicklungen in den arabischen Ländern jetzt. Irgendwo zappelt’s immer. Jeder sollte ab und zu ein bisschen zappeln. Am anderen Ende des Zeitstrahls könnte deine Revolte stehen.